Im Rahmen der DHd 2018 fand am 27. Februar in Köln der Workshop “Research Software Engineering und Digital Humanities. Reflexion, Kartierung, Organisation.” statt. Dieser Blogbeitrag berichtet über die Arbeitsgruppe “Institutionelle Kulturen und Workflows der Softwareentwicklung: Gemeinsamkeiten und Unterschiede” bei diesem Workshop.

Softwareentwicklung Workflow

Verschiedene Umfelder

In den Digital Humanities kann es sehr verschieden sein, in welchem fachlichen Kontext und an was für einer Institution ein Softwareentwicklungsprojekt angesiedelt ist. In der Regel wird DH-Software an der Schnittstelle mehrerer Fächer entwickelt: geisteswissenschaftliche Disziplinen, Informatik, Schnittstellenfächer wie Computerlinguistik und Korpuslinguistik. Diese fachlichen Kooperationen involvieren zudem sehr unterschiedliche Institutionen, zum Beispiel:

  • Akademische Institutionen (Universitäten, Akademien, Max-Planck-Institute, etc.)
  • GLAM/Gedächtnisinstitutionen (Galleries, Libraries, Archives, Museums)
  • Open-Source-Communities (die die Software entwickeln, die wir benutzen)
  • Privatwirtschaftliche Software-Entwicklungs-Unternehmen (Web-Agenturen, Freelancer, Software-Provider)
  • Geldgebende Institutionen

Alle diese Fächer und Institutionen haben ihre je eigenen Workflows und Arbeitskulturen. Was in einem Umfeld gut funktioniert, kann in einem anderen Umfeld auf Hindernisse stoßen. Wer sich an der Schnittstelle bewegt, muss Anpassungs- und Übersetzungsleistungen für die unterschiedlichen Gepflogenheiten leisten. In der Arbeitsgruppe wurden folgende Erfahrungen zum Neben- und Miteinander verschiedener Umfelder zusammengetragen, die wir hier zum Teil bewusst überspitzt formulieren:

  • Begriffe werden mit unterschiedlichen Bedeutungen benutzt (z.B. Information), oder unterschiedliche Begriffe für dasselbe.
  • Verschiedene Fächer haben unterschiedliche erkenntnistheoretische Voraussetzungen und Herangehensweisen.
  • In der fachinformatischen Ausbildung für Softwareentwicklung lernt man, in Gruppen mit klar verteilten Rollen zusammen zu arbeiten (z.B. Project Manager, Product Owner, Scrum Master, Software Architect, UX Designer, Backend Developer, Frontend Developer, Technical Writer). Der Idealtypus geisteswissenschaftlichen Arbeitens ist weiterhin das Ein-Personen-Projekt.
  • Ein Geisteswissenschaftler denkt bei der Datenmodellierung an eine passende epistemologische Modellierung seines Forschungsgegenstandes. Eine Softwareentwicklerin denkt zusätzlich zum Beispiel an Performance oder Schnittstellen zum Frontend.
  • Wenn ein “Beirat” eine Sitzung hat, werden fachpolitische Positionen verhandelt. Wenn ein “Team” ein Meeting hat, wird die gemeinsame Lösung eines Arbeitspakets explizit, bindend, ziel- und effizienzorientiert besprochen.
  • Der Grad der Kompetenz, DH-Projekte mit einem guten Ergebnis durchzuführen, hat nichts mit der erreichten institutionellen Etablierung in der Wissenschaftswelt zu tun (Prof., Assi, HiWi). Alle Beteiligten in einem Softwareentwicklungsprojekt müssen auf Augenhöhe miteinander reden.

Umgangsweisen mit verschiedenen Umfeldern

Was braucht es, um in diesem Feld von Verschiedenheiten gute DH-Software entwickeln zu können? In der Arbeitsgruppe wurden folgende Punkte genannt:

  • Geisteswissenschaftliche Forschungsarbeit muss sich mehr auf Gruppenarbeit ausrichten, Fachdisziplinen müssen zusammenarbeiten.
  • Schnittstellenkompetenz ist auf allen Seiten nötig. Alle müssen sich auch mal in ein anderes Fach oder eine andere Institution hineinbegeben, um die dortigen Herangehensweisen zu verstehen.
  • Um sich zwischen stark unterschiedlichen Wissensdomänen zu verstehen und zusammenarbeiten zu können, muss man viele einfache Verständnisfragen stellen. Dafür muss der Raum da sein. Fragen stellen ist in diesem Kontext ein Zeichen für hohe interdisziplinäre Kompetenz und darf nicht die wissenschaftliche Anerkennung mindern.
  • Die Diskurskultur muss von traditionellen Rollenmustern (Prof., Assi, HiWi) absehen.
  • In den Digital Humanities ist Softwareentwicklung oft auch Forschungsarbeit. Softwareentwickler*innen sollten als Wissenschaftler*innen anerkannt werden.
  • Synergetische Kulturen und Workflows sollten bereits in der DH-Ausbildung gelebt und vermittelt werden und in anderen Fachbereichen als Ausbildungsangebot bestehen.
  • Prozessualität: Da es in Wissenschaften um neue Forschungsfragen geht, muss Software besonders agil sein. Software sollte auf sich ändernde und neue Forschungsfragen und damit Anwendungsszenarien reagieren können. Nachhaltigkeit könnte gerade stetige Veränderung von Software bedeuten. Dazu gehört auch der Einsatz in möglicherweise initial nicht intendierten Kontexten oder für neue Anwendungszwecke.

Gemeinsamkeiten

Bei den hier skizzierten Unterschieden wurde in der Arbeitsgruppe immer wieder eingefordert, keine vereinfachenden Polarisierungen herzustellen. Wenn man sich verschiedene Workflows auf einer abstrakten Ebene anschaut, kann man die gleiche prinzipielle Vorgehensweise sehen: Ausgangspunkt ist eine Frage oder ein Problem, die auf eine bestimmte Art angeschaut werden (Theorie, Modell). Daraus leitet sich eine passende Methode, ein passendes Tool oder eine passende Technologie ab, um die Frage zu beantworten oder das Problem zu lösen. Am Ende steht ein Ergebnis, welches Überprüfungen standhalten muss (Kritik, Review, Reproduzierbarkeit, Tests). Dieser Ablauf wird oft mehrfach durchlaufen (hermeneutischer Zirkel, agile Entwicklungsmethode).

Neue Entwicklungen

Während der Diskussion wurden außerdem mehrere Beispiele genannt, wie sich durch die Interdisziplinarität und Interkulturalität geisteswissenschaftliche Forschungspraktiken ändern:

  • Es entstehen neue Forschungsfragen, z.B. nach Häufigkeiten. Durch digitale Methoden wird ein Zugriff auf viele Daten möglich, die häufig nicht mehr eigenständig hermeneutisch erfasst werden können (vgl. Corpus linguistics, distant reading). Damit können empirisch fundierte Aussagen über die Variation der Vielfalt eines Phänomens oder deren Distribution ermöglicht werden.
  • Digitale Tools wirken auf geisteswissenschaftliche Methoden zurück. Durch die Annotation von Texten kann einerseits nachvollzogen werden, was konkret mit einer bestimmten Kategorie ausgezeichnet wird, und eben auch, was nicht ausgezeichnet wird. Damit müssen Studien zum Beispiel rechtfertigen, welches Textsample angeschaut und annotiert wurde (Design, Balancing).
  • Digitale Tools legen die Messlatte für Nachvollziehbarkeit für hermeneutische Methoden höher. Mit Hilfe von Annotationen und Suchwerkzeugen werden alle Schritte der Analyse unstrittig und explizit nachvollziehbar gemacht.
  • Daten und Forschungsergebnisse werden immer zugänglicher. Dadurch werden eigene Ergebnisse besser vergleichbar, auch international.

Aufgaben für die AG DH-RSE

Diese beispielhaften Aufzählungen für Unterschiede, Gemeinsamkeiten, neue Entwicklungen und Handlungsbedarf sind aus einem explorativen Gesprächskontext während der Arbeitsgruppe entstanden und behandeln vor allem (epistemische) Kulturen. Sie bedürfen einer systematischen Sichtung und weiterer Ergänzung. Dann können auch folgende Fragen behandelt werden: Gibt es abstrahierbare Workflows, die eine gemeinsame Basis für inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit bilden? Welche Vorgehens- und Umgangsweisen für Softwareentwicklung funktionieren gut, egal in welchen Fächern und Institutionen man sich bewegt? Wie wollen wir zusammen arbeiten?

Dabei muss man nicht bei Null anfangen. Es gibt die Science&Technology Studies und die Wissenschaftstheorie. Es gibt Forschung zu Fächer-, Arbeits- und Organisationskulturen, zu interkultureller Kompetenz, zu Gruppenbildungsprozessen. Und es gibt professionelle Praktiker*innen, von denen man sich viel Praxiskompetenz abholen kann, z.B. Coaches oder Projektmanager*innen.

Sehr eklektische Lese-Tipps

  • J. Edmond, M. Doran, G. Nugent-Folan (2018): Is Software Production a Cultural Practice? Position Paper for 2018 Working Group. Trinity College Dublin Centre for Digital Humanities.
    http://dh.tcd.ie/dh/wp-content/uploads/2018/03/Trinity-Centre-for-Digital-Humanities-Software-Culture-Working-Group-Position-Paper.pdf
    Diskussionspapier zu einem im September 2018 stattfindenden Workshop, das unter anderem folgende Dimensionen für die Untersuchung von Softwareentwicklungs-“Kulturen” vorschlägt: Individualism versus Collectivism, Masculinity versus Femininity, Uncertainty Avoidance.
  • Pierre Bourdieu und seine Konzepte des kulturellen Feldes.
    Für eine mögliche Klärung des Begriffs “Kulturen”: Strukturell sprechen wir über die an Personen und Institutionen gebundene Einschränkung von gedanklichen Entwicklungsmöglichkeiten, wie sie in der Wissenschaftstheorie oftmals diskutiert und in dieser Weise anschlussfähig zum ersten mal von Ludwik Fleck als Denkstil und Denkkollektiv formuliert wurde. Nicht nur, da diese auch immer erst Bedingung für brauchbare Wahrheiten sind, bestand Einigkeit darüber, dass mit der Beschreibung unterschiedlicher Kulturen keineswegs die Differenzen im Vordergrund stehen und damit umso größer wirken sollten, wie es etwa bei den Diskursen früherer Generationen a la C.P. Snows The Two Cultures der Fall war.
  • Silke Meyer (2011): Free Software, Free Society? Über die Reproduktion von Differenz in der Praxis von Free/Libre Open Source Software-Communities. Berlin.
    http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000095545
    Dissertation, die Linux-User-Groups als Kulturen untersucht – sicherlich aufschlussreich auch für andere Arbeitskulturen in der Softwareentwicklung. Hinterfragt zum Beispiel die Dichotomie von Nutzer*innen und Entwickler*innen und untersucht die Strukturierung von Zeit beim Programmieren.
  • Tom DeMarco (1997): The Deadline. A Novel about Project Management. New York.
    Zusammenfassende Rezension: https://www.2uo.de/the-deadline/
    Ein in die Jahre gekommener IT-Management-Klassiker, der aber weiterhin einen relativ unterhaltsamen Einblick in bestimmte Ideale von Arbeitskulturen und -abläufen für große Softwareprojekte der Privatwirtschaft bietet.
  • Boris Müller (2018): Strategies for Design-Science Collaboration.
    https://medium.com/@borism/strategies-for-design-science-collaborations-10199f3b8305
    Blogbeitrag über die Kollaboration von Designer*innen und Wissenschaftler*innen, von dem sich Softwareentwickler*innen auch etwas abschauen können - insbesondere, da Design auch ein Teil von Softwareentwicklung ist (UX/UI-Design).
  • Zita Küng (2005): Was wird hier eigentlich gespielt? Strategien im professionellen Umfeld verstehen und entwickeln. Heidelberg.
    https://doi.org/10.1007/3-540-27808-7
    Eine von vielen existierenden Praxis-Übersetzungen von Organisationstheorie. These: Für das Verständnis von Organisationen sind Macht, Strategie, Spiel und Umwelt wichtig. Was tun, wenn man in einem “anderen Film” ist als die anderen, wie spielt man mit?